Berlinale Nachtrag

Die allgemeine Erschöpfung nach zehn Tagen Festival mit über 30 Filmen war dann doch so groß, dass die Besprechung der letzten Filme bis heute warten musste. Womit nichts über deren Qualität gesagt sein soll.  Das Bild ist denn auch sehr uneinheitlich.

Kasaba | © www.berlinale.de

Kasaba | © www.berlinale.de

In der ausgezeichneten Reihe „4 Jahrzehnte Forum“ konnte ich mir Nuri Bilge Ceylans Spielfilmdebut Kasaba (Die Stadt) aus dem Jahr 1997 ansehen. Es ist ein dichtes autobiografisch geprägtes Porträt einer Familie in einer türkischen Kleinstadt. Die Kamera folgt den Kindern durch die Jahreszeiten und in einer Familienrunde am Lagerfeuer drehen sich die Gespräche um die Enge und Zwänge von Familie und Kleinstadt. Cousin Saffet ist unzufrieden mit diesem Leben, lässt sich aber treiben, statt zu handeln.  Lediglich von einem Freund technisch unterstützt drehte Ceylan vor Ort mit Laiendarstellern einen eindringlichen Film in ruhigen Bildern und anmutiger Fotografie. Vorgeschlagen wurde Kasaba von Regisseur Jia Zhangke, der darin viele Parallelen zum Leben in der chinesischen Provinz entdeckte.

Word is Out: Stories of Some of Our Lives | © www.berlinale.de

Word is Out: Stories of Some of Our Lives | © www.berlinale.de

Als Sondervorführung außerhalb des regulären Programm zeigte das Forum „Word is Out: Stories of Some of Our Lives“ aus dem Jahr 1977.  Ein Kollektiv aus Regisseurinnen und Regisseuren gewährt Einblick in das Leben von 26 Lesben und Schwulen. Selbstbewußt wird der allgegenwärtigen Diskriminierung das Selbstbild entgegengestellt. Die Offenheit in der über das eigene Leben erzählt wird, hat das US-amerikanische Publikum zutiefst verstört und wurde zu einem Meilenstein der jungen Gay Rights Movement. Unter den Regissieuren, die sich der anstrengenden Kollektivarbeit unterwarfen, befand sich auch der damals 27jährige Rob Epstein. Von den bewegenden Porträts wäre jedes einzelne einen biographischen Film wert gewesen. Epstein wurde später bekannt durch seinen Dokumentarfilm „The Times of Harvey Milk“ (1984) und den Berlinale Wettbewerbsbeitrag 2010 „Howl“.

Covered Covered | © www.berlinale.de

Covered Covered | © www.berlinale.de

Erwähnen möchte ich auch noch einen Kurzfilm vom Kanadier John Greyson, der sich einmal mehr als experimenteller Dokumentarfilmer bewährt hat. Die Geschichte der gewalttätigen Angriffe auf das erste Queere Festival in Sarajevo 2008 bildet hier den Hintergrund. In 14 Minuten wird eine komplexe Melange aus Festiaval Aufnahmen sowie Bildern von Vögeln gezeigt, zu denen ein fiktiver Essay von Susan Sonntag eingesprochen wird. John Greyson zeigt sich einmal mehr als Filmemacher von herausragender künstlerischer Qualität. Darüber hinaus bin ich auch aus politischen Gründen sehr dankbar für diesen Film, der für Solidarität und Unterstützung mit der queeren Bürgerrechtsbewegung auf dem Balkan wirbt.

Die Regisseurin Renate Costa mit ihrem Vater

Im Dokumentarfilm „Cuchillo de palo“ erfahren wir von der Unterdrückung von homo- und transsexuellen Menschen in Paraguay in der Zeit der Stroessner Diktatur. Stroessner, zu dem die bayerische CSU und deren Stiftung besondere Beziehungen unterhielten, hatte einen schwulen Sohn, Gustavo. Dieser war mutmaßlich in die Ermordung eines Jungen verwickelt, die einen öffentlichen Skandal auslöste. Die Polizeikräfte nahmen diesen Skandal zum Anlass, die berüchtigte 108er Liste von bekannten Homosexuellen zu erstellen, die anschließend inhaftiert und misshandelt wurden. Der Onkel der Regisseurin gehörte zu diesen Opfern. In Gesprächen mit ihrem Vater und Freunden des Onkels, versucht sie herauszufinden, welches Leben ihr Onkel geführt hat. Der Vater gibt den Freunden des Bruders die Schuld am „Unglück“ seines Bruders und versuchte ihn Zeit seines Lebens vom schwulen Umgang fern zu halten. Zuletzt lebte der Onkel einsam in seinem Eckhaus, bevor er eines Morgens erschlagen vor der Tür aufgefunden wurde. Während der Vater sich im Film vom Leben seines Bruders distanziert und sich dabei hartnäckig auf die Kirche beruft, scheinen sich Vater und Tochter auf der Berlinale nähergekommen zu sein. Bei den anschließenden Zuschauerfragen räumt der Vater ein, Fehler gemacht, seinen Bruder nicht akzeptiert und nicht genügend unterstützt zu haben. Heute würde er nicht mehr so handeln.

Regisseur Goshs modische Konzession an den Berliner Winter

Um Schauspiel und sexuelle Identität geht es im indischen Spielfilm „Aarekti Premer Golpo“ (Just Another Love Story) von Kaushik Ganguly und Rituparno Ghosh. Ghosh, der auch die Hauptrolle im Film spielt, ist ein selbstbewußter Vertreter des dritten Geschlechts. Er spielt einen Regissieur, der einen Film über den mittlerweile greisen Star des bengalischen Theaters Chapal Bhaduri machen möchte. Im traditionellen bengalischen Theater war es üblich, dass Männer Frauenrollen spielten. Im Laufe des Films werden Parallelen im Leben des Regisseurs mit dem Bhaduris deutlich. Beide müssen sich mit der Rolle einer versteckten Nebenfrau in der homophoben Gesellschaft begnügen, bis ihre Beziehungen an den äußeren Umständen, an Feigheit und Bequemlichkeit der Partner zerbrechen. Der Film hat ebenso heitere wie traurige Momente. Einziger Kritikpunkt aus europäischer Sehgewohnheit: 128 Minuten sind mir für ein Melodram einfach zu lang.

Geradezu bizarr war der österreichische Beitrag von Peter Kern „Blutsfreundschaft“. Immerhin gebührt dem Werk die Begründung eines neuen Genres: Antifa-Kitsch. Ein junger Bursche gerät unter den Einfluss einer Neonazi Bande, wird zu einen Mord an einem Sozialarbeiter angestiftet und von einem alternden Wäschereibesitzer vor der Polizei gerettet. Der stadtbekannte Schwule Gustav Tritzinsky hat nicht nur eine Wäscherei sondern wurde seinerzeit von den Nazis wegen einer schwulen Liebesaffäre in der Hitlerjugend verfolgt.

Wie weit neben der Wirklichkeit die Geschichte liegt, wird deutlich, wenn ein junger Mithäftling im Gestapo-Gefängnis zum Liebhaber und Verführer von Tritzinsky den denkwürdigen Satz sagt: „Die Nazis jagen Euch Homosexuelle genauso wie uns Juden.“ Unsicher bewegt sich der Film zwischen Fetisch, Trash und Sozialdrama, orientierungslos und klischeebehaftet. Eigentlich ein unmögliches Werk, wenn mich und meinen unbekannten Kinonachbarn nicht immer wieder fassungslose Heiterkeit überkommen hätte. Der zentrale „Mord“ ist eher ein ungeschickter Unfall, der gleichfalls so ungeschickt inszeniert ist, dass es einen vor Lachen aus dem Sessel haut. Auch der bisweilen schwer betrunken wirkende oder sogar laut Drehbuch seiende Helmut Berger sorgt für Stimmung und hat einen Abgang, der einer großen Dramakönigin würdig ist. Ob dieser Film allerdings tatsächlich dazu taugt, Abscheu gegenüber Neonazis zu wecken oder für Solidarität mit Queers und Migranten empfänglich zu machen?

"Postcard to Daddy" | © www.berlinale.de

Sehr bedrückend war die autobiographische Dokumentation „Postcard to Daddy“ von Michael Stock. Stock, der 1993 mit dem schwulen Underground Drama „Prinz in Hölleland“ einen vielbeachteten Erfolg hatte, versucht darin die Geschichte seines Missbrauchs durch den Vater aufzuarbeiten. Doch der Vater entzieht sich weitgehend den Versuchen des Sohnes, ihn zu einer Erklärung zu bringen. Mutter und Schwester stehen Stock solidarisch bei Versuch der Bewältigung beiseite, beide haben aber mit dem Vater abgeschlossen, erwarten nichts mehr von ihm und stehen bisweilen etwas ratlos neben den hartnäckigen Versuchen von Stock, Kontakt aufzunehmen und ins Gespräch zu kommen.

Über die Jahre der Dreharbeiten springen finanzierende TV-Sender vom Projekt ab und ein Liebhaber von Stock mit ähnlicher Missbrauchserfahrung nimmt sich das Leben. Am traurigsten stimmt an diesem Film, dass es Lebenserfahrungen gibt, die sich einer Bewältigung oder wenigstens angemessenen Verarbeitung weitgehend entziehen.

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