Im Januar 2009 verstarb mit Karl Gass eine der prägenden Persönlichkeiten des DEFA Dokumentarfilms. Gass wechselte 1951 vom Nordwestdeutschen Rundfunk zur Deutschen Film AG (DEFA). Zur gleichen Zeit drehte dort der ebenfalls an einer kritischen Aufarbeitung des Nationalsozialismus interessierte Wolfgang Staudte seinen beißenden „Untertan“ nach dem Roman von Heinrich Mann. Dieser geniale Film über Doppelmoral und Obrigkeitshörigkeit des preußischen Junkerntums sollte im Westen Deutschland fünf Jahre verboten bleiben.
Doch während Staudte 1955 nach einem Zerwürfnis mit Brecht und Weigel die DEFA verließ, blieb Gass und wurde bei der DEFA zu einem einflussreichen Regisseur und Hochschullehrer. Zu seinen Schülern zählen Volker Koepp sowie Winfried & Barbara Junge. Letzteren schlug Gass 1961 vor, den Tag der Einschulung einer Schulklasse zu dokumentieren. Ursprünglich „Jochens erster Schultag“ betitelt sollte sich „Wenn ich erst zur Schule geh’…“ zur längsten Dokumentation der Filmgeschichte entwickeln. Bis 2007 kehrten Barbara und Winfried Junge immer wieder zu ihrer Gruppe von Schulanfängern zurück, um ihr Heranwachsen und Schicksal festzuhalten. Daraus entwickelten sich ebenso anrührende wie spannende Porträts, die den Bogen von Beginn und Aufbruch in einer rückständigen Region, dem Oderbruch, im Nachkriegsdeutschland, über die Höhen und Tiefen der DDR-Geschichte bis hin zu Vereinigung und den Unsicherheiten im real existierenden Kapitalismus, zeichneten.
Zu sehen ist weiterhin „Nationalität: Deutsch“ aus dem Jahr 1990. Am Beispiel des Dorfschullehrers und Kantors Albert Linnecke (1898-1954) wird gezeigt, wie Kindern immer wieder neue Weltbilder und politische System vermittelt werden müssen, zwischen Aufklärung, Anpassung und Verdrängung. In seiner eigenen Rolle als Hochschullehrer hat sich Gass immer wieder vor seine Studenten gestellt, versucht ihren Entwicklungsspielräume zu schaffen und vor dem Zugriff der Zensur zu bewahren. So ist aus „Wenn ich erst zur Schule geh’…“ kein Propagandafilm geworden, sondern eine einfühlsame, genau beobachtete Arbeit, bei der zum Teil mit versteckter Kamera gedreht wurde.
Ein weiterer großer Schüler von Gass, Volker Koepp, wird mit fünf Dokumentarfilmen Anfang Mai mit einer Retrospektive vom DOK.fest München geehrt. Hier möchte ich mit „Leben in Wittstock“ ebenfalls eine Langzeitdokumentation empfehlen, in der Koepp das Material von mehreren Filmen zusammenfasst: „Mädchen in Wittstock“ (1975), „Wieder in Wittstock“ (1976), Wittstock III (1977), „Leben und Weben“ (1981) wurden in 1984 im Film „Leben in Wittstock“ gebündelt. Koepp geht dabei jedoch lockerer zu Werk als das Ehepaar Junge, es ist eher ein freundschaftliches Verhältnis, welches ihn immer wieder zu den Frauen des ehemaligen Trikotagewerks Wittstock führt, das ist im Film zu spüren.
Gass war einem Realismus verpflichtet, der beim DDR-Fernsehen auf wenig Zustimmung stieß. „Manche Leute hatten Angst, sich zu äußern, manche hatten keine Lust mehr. Eine solche Art von mitmachender, aufbauender, kritischer Aktivität wie die Brigade Habener („Asse“) hätte ich nicht mehr gefunden“, begründete er seine Hinwendung zum historischen Kinofilm in den 80er Jahren der DDR.
Im Anschluss an die Vorführung von „Wenn ich erst zur Schule geh’…“ und „Nationalität: Deutsch“ moderiert Dr. Gregor Gysi ein Gespräch zwischen Christel Gass und Winfried und Barbara Junge.
In memoriam Karl Gass (1917-2009)
Film und Gespräch am Donnerstag, den 29. April 2010, 19.00 Uhr
Filmmuseum im Münchner Stadtmuseum, St.-Jakobs-Platz 1, 80331 München
Kartenreservierung: Tel. 089 233-96450
Eintritt 4,- Euro